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Julius Schoeps - Gab es einen jüdischen Widerstand

Correspond à la page : 328

Note de l'auteur

Y avait-il une résistance juive ? Les stratégies de défense contre Hitler et la terreur nazie. Conférence prononcée par le Prof. Dr. Julius Schoeps, le 18 Juillet 1997 à la caserne Henning von Tresckow, Potsdam.

Retranscription

Abwehrstrategien gegen Hitler und den NS-Terror

Vortrag von Prof. Dr. Julius Schoeps am 18. Juli 1997 in der Henning-von-TresckowKaserne, Potsdam

Haben sich die Juden Europas zwischen 1938 und 1945 tatsächlich widerstandslos wie die Schafe zur Schlachtbank treiben lassen? Diese Ansicht, in verschiedenen Variationen immer wieder zu hören, und in der Regel unreflektiert gebraucht, ist nach wie vor weit verbreitet. Sie orientiert sich an der bekannten bildhaften biblischen Vorstellung Jeremias 11, 19 („Und ich war ein argloses Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und hatte nicht gemerkt, was sie gegen mich sannen“) und wird immer dann angeführt, wenn es gilt, das angeblich passive Verhalten der Juden in der Zeit des NS-Massenmordes zu charakterisieren und eine Erklärung für das anscheinend Unerklärbare zu geben.

Meist verbindet sich mit dieser Ansicht noch die Vorstellung, die Juden hätten keinen Widerstand geleistet, weil sie durch Anpassungsprozesse in den jeweiligen Wohnländern kein Bewusstsein von sich selbst, also – um im Soziologenjargon zu sprechen – keine Gruppenidentität mehr besessen hätten. Das sei, so wird häufig argumentiert, der eigentliche Grund, warum sie nicht fähig gewesen seien, sich kollektiv gegenüber dem NS-Terror zur Wehr zu setzen. Ist nun diese Annahme zutreffend? Oder handelt es sich nur wieder um eine der von Wissenschaftlern erdachten Theorien, die im ersten Moment plausibel klingen, aber mit der historischen Wirklichkeit nicht viel zu tun haben?

Kompliziert ist der Sachverhalt insofern, als manche Historiker wie der bekannte Holocaust-Forscher Raul Hilberg vehement bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie einen jüdischen Widerstand gegeben habe. Die Juden, so meint er, hätten sich gar nicht wehren können, weil sie dazu gar nicht in der Lage gewesen seien. Sie hätten, so Hilberg, im Verlauf der jahrhundertealten Verfolgungsgeschichte Passivität und Resignation geradezu verinnerlicht. Kreuzzüge, Kosakenmassaker und Pogrome hätten sie nur deshalb überlebt, weil sie gelernt hätten, dass das Nachgeben oder das Zurückweichen am ehesten den Aggressor bestimmt, von seinem Opfer abzulassen. Hilbergs These enthält zweifellos einen richtigen Kern, ist aber so überspitzt formuliert, dass sie auf Ablehnung stoßen muss. Die Wahrheit liegt, wie das meistens in solchen Fällen ist, vermutlich irgendwo in der Mitte.

So mancher Überlebender der Shoa empfindet die Passivitätsbeschuldigung geradezu als obszön. Sie unterstellt nämlich, und zwar unterschwellig, die Juden seien selbst schuld an ihrem Schicksal. Viele ertragen die Passivitätsbeschuldigung deshalb nur schwer. Wer Untergrund, KZ oder Vernichtungslager überlebt hat, den quält verständlicherweise das Warum, die Frage, wieso gerade er und nicht die vielen anderen überlebt haben. Sie fragen, gab es nicht vielleicht doch Möglichkeiten, Auschwitz und den organisierten Massenmord zu verhindern? Legitime Fragen, zweifellos. Sie ändern jedoch nichts am Sachverhalt, dass Widerstand nur dann möglich ist, wenn die Bedingungen für einen solchen vorhanden sind. Das war aber nicht so.

Der Masse der europäischen Juden fehlte jede Voraussetzung, sich kollektiv zur Wehr zu setzen. Und wie auch? Kann man von einer Gemeinschaft, die überaltert, politisch zersplittert und angepasst ist, handfeste Widerstandsaktionen erwarten? Notwendig dafür ist die schon angesprochene Gruppenidentität, die aber nur bedingt vorhanden war. In Osteuropa mehr, in den Ländern Westeuropas weniger. Problematisch ist, dass Hilberg und andere Historiker nur Aufstand und bewaffneten Widerstand als tatsächlichen Widerstand gelten lassen. Das ist eine traditionelle Sicht und zudem ein sehr eng gefasster Widerstandsbegriff, der heute so kaum mehr zu halten ist. Widerstand von Juden auf breiter Ebene gegen das NS-System hat es sicherlich nicht gegeben. Aber dafür verschiedene Formen des Sich-zur-WehrSetzens, und zwar in vielfältigster Weise und auf verschiedensten Ebenen.

Widerstand konnte zum Beispiel heißen, Gesetze missachten, Verordnungen unterlaufen oder kulturelle Aktivitäten entwickeln, die allein den Zweck hatten, der Selbstbehauptung zu dienen. Der Versuch, sich durch Flucht den Verfolgern zu entziehen, konnte ebenso eine Form des Widerstandes sein wie die Tatsache, dass es Juden gab, die sich auf die Seite der Partisanen in die Wälder schlugen oder als Soldaten in den alliierten Armeen an vielen Fronten gegen Hitler-Deutschland gekämpft haben.

Arno Lustiger hat in seinem verdienstvollen Buch „Zum Kampf auf Leben und Tod!“ für einen solcherart erweiterten Begriff des Widerstandes plädiert, der nicht nur den bewaffneten Widerstand meint, sondern alle Formen des geleisteten Widerstandes umfasst und somit auch Antworten auf die eigentlich hypothetische Frage zulässt, ob die jüdische Bevölkerung Europas überhaupt eine Chance hatte, sich gegen die drohende Vernichtung zu wehren.

Berücksichtigt man, dass es für die Juden schwer war, an Waffen heranzukommen, dass sie sich nicht frei bewegen konnten, von Feinden umstellt, und zudem noch durch das Mittel der gezielten Täuschung entmutigt und demotiviert waren, ist es erstaunlich, dass es dennoch Widerstandskämpfer gab, die sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel militant gewährt haben, und zwar nach dem Motto: Wir kämpfen nicht, um zu siegen, sondern für die Ehre des jüdischen Volkes, für ein paar Zeilen in den Geschichtsbüchern.

Das Anliegen Lustigers, einem Überlebendem der Vernichtungslager, der heute als Schriftsteller in Frankfurt am Main lebt, ist durchaus nachvollziehbar. Ihm ging und geht es darum, den Mythos zu zerstören, der den Eindruck erweckt, die Juden hätten sich gar nicht oder nur wenig gewehrt. So ganz abwegig ist es nicht, wenn er feststellt, dieser Mythos sei eine der letzten „historischen Lügen“, eine hartnäckig sich haltende Legende, die alle Phasen der „Betroffenheit“ und der „Aufarbeitung“ der jüngeren deutschen Geschichte überdauert hat.

Es ist in der Tat wenig bekannt, dass es in fast hundert Ghettos in Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine zu Aufständen kam. Nur in den seltensten Fällen standen dabei Waffen zur Verfügung. Teilweise wehrte man sich mit Messern, Äxten und Knüppeln, teilweise mit den bloßen Händen. Die Aufstände gegen die SSMannschaften in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Auschwitz-

Birkenau, von Überlebenden ausführlich beschrieben und dokumentiert, werden häufig von den Historikern als reine Verzweiflungsaktionen bewertet. Diese Bewertung ist ungerecht. Denn diese Aktionen waren mehr als nur ein letztes Aufbäumen, sie waren eher ein letzter Versuch, in auswegloser und verzweifelter Situation die menschliche Würde zu wahren. Bedenkt man, dass die meisten dieser Häftlinge, die ihre Peiniger angriffen, halb verhungert, von der Zwangsarbeit ausgemergelt, kaum noch Überlebenshoffnungen hatten, dann sind die Widerstandshandlungen in den Lagern gar nicht hoch genug einzuschätzen. Der Mut der Aufständischen im Warschauer Ghetto ist mittlerweile fast schon legendär geworden. Im Frühjahr 1943 begann der Widerstand gegen einen brutalen und bis an die Zähne bewaffneten Gegner. 22 Kampfgruppen bildeten sich, über 1000 unterirdische Bunker und Verstecke wurden gebaut. Es war ein aussichtsloser Kampf, aber er wurde geführt, nicht weil man glaubte, den Kampf gewinnen zu können, sondern weil man vor der Geschichte Zeugnis ablegen wollte.

Kommunisten, Bundisten, Links- und Rechtszionisten hatten sich im Ghetto zu einer verschworenen Kampfgemeinschaft vereinigt. Mordechaj Anielewicz, der Kommandant der „Zydowska Organizacja Bojowa“ (ZOB) (Jüdische KampfOrganisation), der am 8. Mai 1943 fiel, dem 15. Tag des Aufstandes, bemerkte in einem Brief kurz vor seinem Tod: „Unsere letzten Tage nahen. Aber solange wir noch eine Kugel haben, so lange werden wir weiterkämpfen und uns verteidigen.“ In den Ländern Westeuropas, insbesondere in Frankreich, war der jüdische Widerstand zumeist akzeptierter Teil des allgemeinen Widerstandes. Es gab zwar jüdische Gruppierungen wie die von Abraham Polonski und Lucien Lublin in Toulouse gegründete Armee Juivè, die ihre Mitglieder vor der Ausbildung mit der Waffe auf die Bibel und die blau-weiße zionistische Flagge vereidigte. Normalerweise begriffen sich die Juden Frankreichs aber als Angehörige des nationalen Widerstandes, die Seite an Seite mit anderen Gegnern des NS-Terrors gegen die deutschen Okkupanten und deren Kollaborateure kämpften. Sie verübten Anschläge, retteten Kinder und verhalfen Juden und Nicht-Juden auf zum Teil abenteuerlichen Wegen zur Flucht in die Freiheit.

Relativ unbekannt ist der Sachverhalt, dass führende Vertreter der französischen Résistance Juden waren. Ihre Namen werden in Frankreich noch heute in Ehren gehalten, so zum Beispiel: Colonel Gilles, der Militärstratege, der eigentlich Joseph Epstein hieß und die Widerstandsgruppen in der Region Paris befehligte. Oder Jacques Bingen, der, nachdem der SS-Scherge Klaus Barbie Jean Moulin zu Tode gefoltert hatte, Chef der vereinigten Résistance in Frankreich wurde. Oder auch Lazare Rachline, der von General de Gaulles im Mai 1944 den Auftrag erhielt, die Résistance umzustrukturieren, aber bereits im September demissionierte, weil er die Racheakte an Kollaborateuren ablehnte und manche Brutalitäten der Epuration (Säuberung) ihm zuwider waren.

Verschwiegen werden sollte jedoch nicht jenes dunkle Kapitel der französischen Geschichte, das noch heute heftige Kontroversen auslöst. Gemeint sind die damaligen Bemühungen, die Résistance zu „arisieren“. Die Tatsache zum Beispiel, dass von den Hingerichteten der Gruppe „23“ des Nazisteckbriefes „L'Affiche Rouge“ (Das rote Plakat) zwölf Juden waren, passte im Nachkriegsfrankreich nicht zum

Mythos der „nationalen Befreiung“. Insbesondere die KPF war nach 1945 bemüht, den Anteil der Juden in der „Résistance“ herunterzuspielen.

Die KPF war es auch, die intervenierte, als im Mai 1985 der Dokumentarfilm „Terroriste en retraite“ (Terroristen auf dem Rückzug) gezeigt werden sollte, ein Film, der über die jüdischen Überlebenden der Gruppe Manouchian berichtet, der wohl berühmtesten Kampfgruppe der Résistance. Simone Signoret, die ihre RésistanceVergangenheit in ihrem Buch „Adieu Valodia“ beschrieben hat, äußerte sich damals erbittert darüber, dass die jüdischen Résistance-Kämpfer seit 1943 systematisch vergessen und noch einmal per Filmzensur geopfert werden sollten. Der durch die Intervention der KPF ausgelöste Skandal führte dazu, dass das Staatsfernsehen schließlich gezwungen wurde, den Beitrag zu senden. Dennoch blieb ein bitterer Nachgeschmack.

Dass Juden sich in den besetzten Gebieten Osteuropas Partisaneneinheiten angeschlossen haben, ist heute unbestritten. Tatsache ist aber auch, dass seitens der Partisanenstäbe große Anstrengungen unternommen wurden, die Bildung besonderer jüdischer Kampfeinheiten zu verhindern. Das hielt aber jüdische Männer und Frauen nicht ab, in die Wälder zu gehen und sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen. Häufig mussten sie dabei ihre jüdische Identität verbergen, denn die Fälle waren nicht selten, dass Juden von ihren nichtjüdischen Mitkombattanten denunziert oder ermordet wurden.

Die meisten der Namen, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind heute weit gehend vergessen. Ganz aber doch nicht, denn ihr Vermächtnis lebt unter anderem fort. In manchen von Folklore-Sängern noch heute gern gesungenen Liedern wie „Sog nit keijnmol...” das nicht nur an die Heldentaten jüdischer Partisanen erinnert, sondern insbesondere auch an den jiddischsprachigen Dichter dieses Kampfliedes, den jungen Hirsch Glik, der zweiundzwanzig Jahre alt war, als er 1944 mit der Waffe in der Hand fiel. In Deutschland hatten es die Juden schon aus Mentalitäts-Gründen schwer, geeignete Abwehrstrategien gegen Hitler und den NS-Terror zu entwickeln. Nach der 1933 erfolgten Selbstgleichschaltung des liberalen Bürgertums und der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung waren sie ohne Rückhalt und wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Wer nicht revolutionärer Marxist oder radikaler Pazifist war, hatte kaum die Möglichkeit, zu einer Fundamentalopposition gegenüber dem Staat zu finden.

Insofern unterschieden sich die Juden nicht von der Mehrzahl der Deutschen, die bekanntlich ebenfalls nicht auf die Idee gekommen sind, sich gegen den Staat zu stellen, den sie zwar mit Mängeln behaftet und in der Hand von brutalen Machtmenschen wussten, aber doch noch immer als den eigenen ansahen. „Es lag“, so formulierte es der vor noch nicht allzu langer Zeit verstorbene Hamburger Historiker Werner Jochmann, „außerhalb des Vorstellungsvermögens, den Staat als Werkzeug des Verbrechens oder der Vernichtung zu betrachten“.

In einer grotesken Verkennung der tatsächlichen Umstände glaubten manche deutsche Juden bei Kriegsausbruch sogar, sich freiwillig melden zu müssen. Julius Schoeps zum Beispiel, der es im Ersten Weltkrieg zum Oberstabsarzt gebracht und

als einziger Jude dem zweiten Gardedragonerregiment Kaiserin Alexandra von Russland angehörte, war zutiefst davon überzeugt, er müsse seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen. Dass er es damit tatsächlich ernst meinte, ist durch einen Brief belegt, den seine Ehefrau dem gemeinsamen Sohn ins schwedische Exil schrieb: „Papa ist abgeraten worden, sich jetzt schon beim Militär zu melden, es hätte noch keinen Zweck, ich fürchte auch, er ist zu alt.“ Julius Schoeps war damals 75 Jahre alt. Er war ein Patriot, ein deutsch – jüdischer Patriot, der nicht verstehen konnte, warum sein Deutschsein nichts mehr galt und sein Patriotismus nicht mehr akzeptiert wurde.

Oft wird gefragt, ob es überhaupt einen militanten Widerstand in Deutschland gegeben hat. Wenn überhaupt, dann könnte man die Organisation „Neu Beginnen“ oder die kommunistisch orientierte Untergrundgruppe um Herbert Baum nennen. Die Letztere verübte am 18. Mai 1942 einen Brandanschlag auf die antisowjetische Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“, woraufhin 250 Juden in Berlin als Geiseln erschossen, Herbert Baum zu Tode gefoltert und 27 Mitglieder der Gruppe nach Prozessen vor dem Volksgerichtshof hingerichtet wurden.

Der Grund, aus dem sich Juden dem organisierten antifaschistischen bzw. kommunistischen Untergrund angeschlossen haben, hing in erster Linie damit zusammen, dass für sie im bürgerlich-konservativen Widerstand, auch wenn sie es gewollt hätten, kein Platz war. Die dort vertretene politisch-ideologische Programmatik schloss sie aus. Die Männer des 20. Juli stellten sich zwar gegen Hitler, standen aber den Juden und der sogenannten „Judenfrage“ ablehnend gegenüber.

Carl Friedrich Goerdelers berühmte Denkschriften zum Beispiel, die Pläne für Deutschland nach Hitler konzipierten, sind von traditionellen machtpolitischen Ansprüchen, völkisch-nationalen Tönen und illiberalen Ressentiments durchtränkt. Heute ist weit gehend verdrängt, dass für den bürgerlichen Widerstand das Schicksal der Juden – wenn überhaupt – nur von marginaler Bedeutung gewesen ist. Vereinzelte Proteste und Beispiele humanitärer individueller Hilfe hat es zwar gegeben, nicht jedoch die grundsätzliche Verurteilung des Antisemitismus und der NS-Judenpolitik.

Dass einzelne Juden am organisierten antifaschistischen bzw. kommunistischen Widerstand zwischen 1933 und 1945 Anteil hatten, ist unbestritten. Juden haben in politischen Gruppierungen mitgearbeitet, sich im Exil politisch engagiert und mit der Waffe im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Arnold Paucker, der Iangjährige Direktor des Londoner Leo Baeck-Instituts, hat sogar errechnet, dass prozentual mehr Juden im antifaschistischen Widerstand organisiert waren als nichtjüdische Deutsche. Für Deutschland kommt er auf eine Zahl von etwa 2000 jungen Menschen, die in der Untergrundarbeit aktiv waren und dem Widerstand zugerechnet werden können. Fest steht aber auch, dass es in Deutschland einen spezifisch „jüdischen“ Widerstand – sieht man vom Sonderfall der Baum-Gruppe ab – nicht gegeben hat. Und zwar schon deshalb nicht, weil die Kommunistische Partei bereits 1935 die Weisung ausgegeben hatte, dass sich jüdische und nichtjüdische Genossen in getrennten illegalen Zellen zu organisieren hätten. Das führte dazu, dass Juden im

Kampf gegen Hitler und den NS-Terror mehr oder weniger auf sich allein gestellt waren. Sie kämpften nicht als Juden, sondern als Individuen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, die deutschen Juden hätten in ihrer Mehrzahl nach 1933 ein positives Verhältnis zum deutschen Widerstand und dessen Aktionen finden müssen. Weder konnten sie das, noch wollten sie es. Dazu war man in der Mehrzahl zu angepasst, zu loyal gegenüber der Staatsautorität. Die Vorstellung, mit der Waffe in der Hand diese zu bekämpfen, war geradezu undenkbar. Letztlich hätte eine solche Vorstellung auch dem traditionellen jüdischen Verhalten widersprochen, sich in Situationen der Gefahr zu arrangieren – in der Hoffnung, so am ehesten unbeschadet zu überleben.

Wenn wir vom Widerstand im NS-Staat sprechen, neigen wir dazu, nur das als Widerstand anzuerkennen, was sich in der offenen Anwendung von Gewalt gegen die Staatsmacht zeigte, also Attentate, Bombenanschläge, Sabotageakte. Es hat aber durchaus auch andere Formen des Widerstandes gegeben, die nicht mit handgreiflicher Gewalt verbunden waren. Sie sind einem erweiterten Widerstandsbegriff zuzurechnen, der anfangs bereits kurz thematisiert worden ist. Zu diesem Widerstandsbegriff gehören das Nichtmitmachen, die Verweigerung, das Lächerlichmachen, der Protest, aber auch das Bemühen um Selbstbehauptung. Als Beispiel für die letztgenannte Form des Widerstandes mag der berühmte Aufsatz „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“ gelten, der aus der Feder von Robert Weltsch stammt und am 4. April 1933 in der „Jüdischen Rundschau“ erschien. In diesem Aufsatz wurden die deutschen Juden aufgefordert, sich zu ihrem Judesein zu bekennen, was mit der Aufforderung verbunden war, Selbstbewusstsein gegenüber dem zunehmenden NS-Terror an den Tag zu legen. Es war ein Aufruf, der für ein ganzes Spektrum von Verhaltens- und Handlungsweisen steht, mit denen die Juden solidarisch auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und den darauf folgenden Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft und Kultur reagierten.

Eine nichtmilitante Form des Widerstandes war in den Anfängen des NS-Regimes der Fall des jüdischen Kaufmanns Abraham Adolf Kaiser aus Duisburg. Kaiser hatte während der Olympischen Spiele in Berlin, die seinerzeit überall in der Welt beachtet wurden und zur Anerkennung des NS-Systems im Ausland erheblich beitrugen, am 6. August 1936 einen Brief an den amerikanischen Olympiakämpfer Jesse Owens geschrieben, der nicht mit Namen unterzeichnet war, sondern mit „civis german“ – ein deutscher Bürger. Dieser Brief ist ein für sich selbst sprechendes Beispiel. Die Gestapo, die bei einer Hausdurchsuchung eine Durchschrift fand, hielt in einem Bericht schriftlich fest, dass der Brief „von schwersten Angriffen und Beleidigungen gegen das nationalsozialistische Deutschlands strotze“. In dem erhaltenen GestapoBericht heißt es weiter, Deutschland werde als „ein Land der Barbarenherrschaft und Schreckensherrschaft“ bezeichnet, „in welchem Verbrecher am Ruder wären, zwei Millionen politischer Gefangener schmachteten und deutsche Richter willfährige Henkersknechte der Machthaber“ seien. Kaiser habe Jesse Owens aufgefordert, „die goldene Olympiamedaille dem Blutmenschen Adolf Hitler vor die Füße zu werfen und ostentativ abzureisen, um diesen Mördern und Barbaren für ihren Hochmutsdünkel eine Lektion zu geben.“

Es hat damals Mut dazu gehört, sich zu äußern und öffentlich Position zu beziehen, zu sagen, womit man und womit man nicht einverstanden war. Wurde man von Missgünstigen denunziert, dann hieß das in der Regel Haft oder Einweisung in ein Konzentrationslager. Abraham Adolf Kaiser aus Duisburg wurde von einem Düsseldorfer Sondergericht wegen des Briefes an Jesse Owens zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der sogenannten „Kristallnacht“ wurde er abermals für acht Monate im KZ Dachau in „Schutzhaft“ gehalten. Wieder freigelassen, weigerte er sich, als im Herbst 1941 der Judenstern eingeführt wurde, das Zeichen anzuheften. Er wurde im Oktober 1941 festgenommen und am 13. Januar 1942, so die letzte Eintragung in der Personalakte, „nach Riga evakuiert“. Danach verlieren sich seine Spuren im Nichts.

Wie sah die tagtägliche Gefährdung aus? Welche Möglichkeiten stellten sich den Juden überhaupt? Die meisten empfanden ihre Existenz als ein „Leben auf Abruf“. Die Angst, beim nächsten Transport dazuzugehören, beherrschte jeden verbleibenden Augenblick. Angesichts dieser Situation blieben den Betroffenen in der Regel nur zwei Auswege – Illegalität oder Selbstmord. Illegalität bedeutete Untertauchen oder Flucht in das nicht von den Nazis besetzte Ausland, was beides mit größeren Schwierigkeiten verbunden und nur einigen Jüngeren gelungen ist, die die Chance für sich nutzten, auf Schleichwegen Deutschland zu verlassen. Den Älteren blieb nur der „Selbstmord als letzter Akt der Selbstbestimmung“ (Monika Richarz). 1942 ging ein Viertel aller Todesfälle unter den Juden in Berlin auf Selbstmord zurück. Die Historiker streiten sich darüber, inwieweit der Selbstmord, beziehungsweise die Selbsttötung, als ein Akt des Widerstandes interpretiert werden kann. Einige sind sogar der Ansicht, die Flucht oder das Sichentziehen durch Selbstmord sei ein „nonkonformes Verhalten“ gewesen, das den reibungslosen technisch-bürokratischen Ablauf der NS-Vernichtungsmaschinerie „gestört“ beziehungsweise nicht dem „vorgeschriebenen Weg“ der „Endlösung“ entsprochen habe. Die Nazis, so meinen sie, hätten deshalb nichts unversucht gelassen, den Freitod von Juden (in der Deportationsphase nahmen sich rund 3000 das Leben) zu verhindern.

Die SS war bemüht, Selbstmordversuche zu unterbinden, geschahen sie dann doch, wurden diejenigen bestraft, die den Versuch unternommen hatten. Im SobiborProzess wurde festgestellt: „Häftlingen, die Selbsttötungsversuche unternahmen und zum Morgenappell noch fehlten, wurde übel und in beispiellosem Zynismus mitgespielt. Sie wurden zur ‚Abschreckung’ der angetretenen Arbeiter erschossen, wobei des öfteren eine warnende Ansprache gehalten wurde, dass nur den Deutschen das Recht zu töten zustehe, Juden aber nicht einmal das Recht hätten, sich selbst zu töten …”

In ihrem 1963 veröffentlichtem Buch „Eichmann in Jerusalem“ erklärte Hannah Arendt, die europäischen Juden hätten sich der Mithilfe an der eigenen Vernichtung schuldig gemacht. Wenn die jüdischen Gemeindeführer, die Leiter internationaler Zusammenschlüsse und Wohlfahrtsorganisationen sich geweigert hätten, mit den NS-Behörden zusammenzuarbeiten, dann wäre es nach Ansicht der streitbaren Philosophin und Publizistin zwar zu einem Chaos und sehr viel Elend unter der jüdischen Bevölkerung gekommen, die Gesamtzahl der Opfer aber hätte kaum zwischen viereinhalb und sechs Millionen gelegen.

Gegen Hannah Arendts aufsehenerregende These hagelte es heftige Proteste. Wiederholt wies man auf die Haltlosigkeit ihrer Vorwürfe hin. Entgegengehalten wurde ihr, sie hätte die realen Bedingungen verkannt, die Situation falsch wiedergegeben, in der Juden damals lebten. Übereinstimmung in diesem umstrittenen Fragenkomplex konnte und kann wohl nicht erreicht werden. Fest steht nur, das dürfte auch weitgehend unbestritten sein, dass es jüdischerseits kaum Möglichkeiten gab, sich dem Prozess der Ausgrenzung zu entziehen und sich der drohenden Deportation zu widersetzen.

Für uns Heutige stellt sich die Frage, ob Hannah Arendt ihre These nicht vom Standpunkt der Intellektuellen formuliert hat. Vielleicht, so müssen wir fragen, hat sie zu sehr aus dem eigenen Blickwinkel geurteilt und das Geschehen unter der NSHerrschaft allzu sehr an den eigenen moralischen und ethischen Maßstäben gemessen. Ist, so müssen wir weiter fragen, die Forderung Hannah Arendts, dass in bestimmten Situationen Widerstand geleistet werden muss, überhaupt richtig? Macht sich denn derjenige tatsächlich schuldig, der sich nicht zu wehren weiß? Und ist derjenige zu verurteilen, der alles mit sich geschehen lässt? Fragen über Fragen. Im Rückblick erscheint es problematisch, denjenigen einen Vorwurf zu machen, die sich nicht in der Lage sahen, Widerstand in irgendeiner Form zu leisten. Die meisten deutschen Juden waren, wie eingangs festgestellt, schon aus ihrer Einstellung zu Deutschland mental dazu unfähig. Sie liebten das Land und lebten bis zum Machtantritt der Nazis, und vielfach darüber hinaus, in der Überzeugung, die Obrigkeit könne nicht Unrecht tun und Anordnungen der Behörden sei unbedingt Folge zu leisten. Manche hätten sich vielleicht retten können und wären vielleicht davongekommen, wenn sie bemerkt hätten, dass sie es bei Hitler und den Nazis mit dem radikal Bösen zu tun haben. Tragischerweise haben das aber nur die Wenigsten erkannt.

Letztlich geht es in der Debatte um den „jüdischen“ Widerstand nicht so sehr um die Frage, ob Widerstand in bestimmten Ausnahmesituationen möglich ist, sondern darum, ob der Mensch sich im Zustand der Rechtlosigkeit auf überkommene Rechtsprinzipien berufen kann. In der Regel, so wissen wir, nützt das wenig. Die Folge ist, dass sich für den Einzelnen in der konkreten Situation zwei Möglichkeiten des Verhaltens ergeben können. Er kann sich fügen oder er kann, wenn er der Überzeugung ist, rechtsstaatliche Prinzipien werden ausgehebelt oder – wie in der Zeit des Nationalsozialismus – pervertiert, sich zur Wehr zu setzen. Widerstand ist also unter bestimmten Bedingungen nicht nur gefordert, sondern auch legitim. Der Normalbürger glaubt und verlässt sich auf das Funktionieren des Rechtsstaates und der Rechtsstaatlichkeit, selbst in schwierigen Zeiten. Die deutschen Juden machten da keine Ausnahme. Sie vertrauten auf den Rechtsstaat, und verstanden zumeist nicht, wieso die Mehrzahl ihrer nichtjüdischen Mitbürger sich vor Hitler und den Nazis auf die Knie warfen und auf Rechte und Freiheiten freiwillig verzichteten, die in langen Jahrzehnten gegen heftige Widerstände mühsam erkämpft worden waren.

Die Frage, welches die Gründe für dieses blamable Versagen waren, ist zureichend bisher nicht geklärt und wird uns vermutlich auch in Zukunft noch beschäftigen.

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